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16.02.2012

» Kahlschlag für ein pornographisches Projekt

Rede des Schriftstellers Heinrich Steinfest auf der Demo am 14.2.2012 beim Schlossgarten


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor einiger Zeit kam ich in einem überfüllten Restaurant dieser Stadt zufälligerweise gegenüber einer alten, einer wirklich alten Dame zu sitzen, die mir erzählte wie man nach dem Zweiten Weltkrieg in den Wintern unter der Kälte und dem fehlenden Heizmaterial litt, daß aber niemand es gewagt hätte, die Bäume des Mittleren Schloßgartens anzutasten, da dies als ein Sakrileg erschienen wäre.

Sakrileg ist ein passendes Wort, sacrilegium – Tempelraub, die Entweihung heiligen Bodens oder heiliger Sachen durch Raub, Schändung oder Mißbrauch. Nun, angesichts einer Not verschieben sich oft die Grenzen und man hätte Verständnis für manchen Tabubruch. Was ist aber Not, was ist notwendig. Notwendig ist, eine Not zu wenden. Was aber, wenn diese Not gar nicht besteht, im Gegenteil, und die Entweihung aus profanen Gründen geschieht, in diesem Fall aus simpler Habgier (Habsucht trifft es vielleicht noch präziser). Genau dadurch steigt sie auf in den Rang der Gotteslästerung.

Wenn wir erklären, wieso wir keine Hunde oder Katzen verspeisen, dann tun wir das nicht, weil wir meinen, daß Hunde und Katzen die besseren Tiere sind, die es weniger verdienen, weichgekocht auf einem Eßtisch zu landen, sondern weil es sich bei ihnen um Haustiere, also um Familienmitglieder handelt. Sie zu verzehren ist darum ein Nahrungstabu, weil es uns als eine Art von Kannibalismus erscheint. Die wenigsten Menschen wären selbst in großer Not bereit, dieses Tabu zu brechen. Weil sie nämlich begreifen, wir sehr die Verletzung sie selbst verletzen würde. Ein Familienmitglied opfert man nicht.

Was hat das aber mit Parkbäumen zu tun? Sind auch sie Familienmitglieder? Das sind sie in der Tat, finde ich, sie sind Teile eines städtischen Organismus, mit dem wir in einer Wechselbeziehung leben. Dazu muß man nicht mit ihnen reden, man kann sie auch spüren. Ich denke, jeder der einmal an einem heißen Sommertag unter einem dieser Bäume seine Zeit verbracht hat, weiß, was ich meine. (Hätten nur mehr ihre Zeit dort verbracht!) Man muß darum kein Esoteriker sein, um die Kraft und Würde zu begreifen, die sie besitzen und mit der sie auch uns ein wenig ausstatten, sobald wir in ihre Nähe geraten, sobald wir eine Symbiose eingehen.

Würde ist der entscheidende Begriff. Sie ist es, die meistens auf der Strecke bleibt. Wäre ich ein Baum, würde ich sagen: Wenn ihr mich unbedingt töten wollt, tut es, aber gebt nicht vor, daß dies unausweichlich ist und einer besseren Zukunft geschuldet, und gebt nicht vor, mich operieren zu wollen. Die geplante oder auch nur behauptete Baumversetzerei der im Bau-Weg stehenden Schloßgartenbäume ist Ausdrucks eines Spotts. Der gleiche Spott, der sich daraus ergibt, ein Land zu bombardieren, in dem man nachher Krankenhäuser baut.

Das ist unser Problem: Wir wollen nicht vollends böse sein. Begonnen wurde mit der Theorie von effektiven Verpflanzungen und gelandet sind wir bei läppischen Vorschlägen zur Gemütsberuhigung, etwa (Zitat Stuttgarter Zeitung, den Stadtsprecher zitierend) die Stämme „an Behindertenwerkstätten weiterzugeben, zu Spielgeräten zu verarbeiten oder als Anschauungsmaterial auf Waldlehrpfaden einzusetzen.“

Dieses Dilemma gilt übrigens in gleichem Maße für den Bonatz-Bau. Die Fassade stehen zu lassen – in der Tat allein den Kopf, ohne Hirn allerdings, ohne Bewußtsein, lobotomiert– konterkariert nicht nur die Würde des zu zerstörenden Gebäudes, sondern letztendlich auch die Würde der Zerstörer.

Wir haben unser Augenmerk – sicher zu Recht – auf den Umstand gelegt, daß die Fällung der Bäume eine so unfreiwillige wie erzwungene Opfergabe darstellt, die sich aus dem Immobiliendeal ergeben hat, der nichts anderes bedeutet als eine obskure Schenkung der Stadt Stuttgart an die Bahn im Jahre 2001. Der Geist aber, der hinter diesem Deal steht, ist nicht allein ein von monetärer Gier angefeuerter, sondern spiegelt auch die Verachtung wieder, die viele Stadtväter- und Stadtmütter dem eigenen Ort gegenüber hegen.

Ich habe es einmal damit verglichen, daß ein Mann an seiner Frau ständig etwas auszusetzen hat, weil sie ihm zu dünn oder zu dick ist, der Busen zu klein oder zu groß, die Haare zu blond oder zu wenig blond, die Taille zu gerade oder zu rund und so weiter. – Ich denke, der Mann hat in erster Linie ein Problem mit sich selbst, hält sich freilich für vollends gesund, das tun die Kranken gern. Sodann gipfeln seine abstrusen Phantasien in der Forderung, seine Frau möge sich einen Silikonbusen anschaffen, möge sich in ein „neues Objekt“ verwandeln, ein pornographisches. Und genau das ist nämlich der Ingenhovenbau sowie – deutlich sichtbar – das entstehende sogenannte Europäische Viertel: ein Silikonbusen. Die Stuttgarter Mitte soll zum Silikon-Kessel werden.

Ein synthetisches Geschwür, das sich ausbreitet. Aber die Industrie fordert nun mal ihre Opfer und die Politik läßt sie gewähren. Genau darum habe ich einmal vorgeschlagen, wenigstens das A1-Gelände umzuwidmen in eine Sandkiste der Bauwirtschaft und dort in einem fort Gebäude aufzubauen, abzureißen, aufzubauen, abzureißen ... um auf diese Weise die Wirtschaft – wenn die Mehrheit der Mandatare es denn so will – in ihrem neoliberalen Gang zu halten. Das ist immer noch besser für uns, als ohnmächtig zusehen zu müssen, wie der Rest der Stadt in einen europäischen Alptraum sich verwandelt.

Keine Frage, es geht uns wie den Bäumen: Man versucht uns zu bagatellisieren und zu marginalisieren. „Sind ja nur ein paar Bäume, ist doch bloß ein Bahnhof, sind doch bloß nur ein paar arme Irre.“ Aber das müssen wir aushalten, wir sind mitnichten die ersten. Und wir werden es aushalten. Und dabei – gleich, zu welcher Handlung nun sich jeder Einzelne von uns entscheidet – darauf achten, die eigene Würde zu erhalten.

Wir bedanken uns bei Heinrich Steinfest für diesen Beitrag! Er ist übrigens Pate dieses Baumes im Schlossgarten. Nach seiner Rede hielt er sich im Mittleren Schlossgarten auf.